Damian Duchamps' Blog

Die Bildungsverlierer

Posted in Hauptschule, Schulpolitik by damianduchamps on Februar 27, 2011

Nachdem ich heute das sehr interessante ZDF Interview mit Christian Füller las, musste ich mich auch des Themas annehmen. Worüber ich hier schreibe, ist nicht neu. Ich möchte allerdings einfach einmal aus meinem Erleben plastisch machen, was man sonst so allgemein beschreibt, wenn es um die Bildungsverlierer geht. Zu denen zähle ich nicht nur die Kinder, die am Ende ihrer Schulzeit ein Lesevermögen auf Grundschulniveau haben, sondern den Großteil der Kinder, die heute eine Hauptschule besuchen.

Ich unterrichte nunmehr seit 13 Jahren an einer Hauptschule im ländlichen Bereich. Über lange Jahre war hier die Welt scheinbar noch in Ordnung. Irgendwann kam im Schulzentrum eine Realschule hinzu. Das war vor meiner Zeit. Seit der Realschule sinken die Übergangsquoten von den Grundschulen zu unserer Schule kontinuierlich. Die Hauptschule mit einst nahezu 1200 Schülern hat heute noch knapp über 400 Schüler und die Realschule beinahe 500. In den letzten zehn Jahren machte sich die Abwanderung von Kindern, die traditionell Hauptschüler gewesen wären, zur Realschule im Leistungsniveau unserer Schüler immer stärker bemerkbar. Jeder neue Fünferjahrgang schien den vorherigen zu übertreffen in Bezug auf die Anzahl der Problemfälle und die allgemein schwachen Lernvoraussetzungen, welche die Kinder mitbrachten. Vor allem in den letzten Jahren nahm der Anteil der Neuzugänge mit massiven Problemen stark zu. Die Grundschulen stehen unter großem Druck der Eltern, die ihre Kinder um jeden Preis ans Gymnasium schicken möchten. Die Eltern kann man verstehen. Wer möchte nicht das Beste für sein Kind? Grundschulen zählen von ihrer Pädagogik her zum Modernsten, was unser Land momentan zu bieten hat. Sie unterrichten sehr offen und versuchen, ihren Schülern möglichst individuelle Lernwege zu eröffnen. Allerdings scheinen auch sie vielfach überfordert, wirklich alle Kinder dort abzuholen, wo sie stehen. Von Grundschullehrerinnen und -lehrern höre ich das zumindest immer wieder. Sie berichten von Fällen, die ihre Möglichkeiten einfach übersteigen. Das sind verhaltensauffällige Kinder, Kinder mit sprachlichen Problemen durch Migrationshintergrund, entwicklungsverzögerte Kinder, durch Familienprobleme traumatisierte Kinder, vernachlässigte Kinder, nicht erzogene Kinder, verhaltensgestörte Kinder, usw.. Diese Kinder fallen bereits in der Grundschule durchs Raster. Oft hat man an der Grundschule weder die Ressourcen noch die Expertise, um diesen Kindern zu helfen. Einige Kinder werden mit ihren Problemen übersehen, für einen Teil wird ein so genanntes GU-Verfahren eröffnet und wieder andere nimmt man einfach so mit. Die Kinder, für welche sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wird, können einer GU-Klasse (Klassen mit gemeinsamem Unterricht, d.h. eine Lehrkraft einer Förderschule ist mit Stunden für die Klasse abgeordnet) zugewiesen werden, falls man ausreichend GU-Kinder in den entsprechenden Jahrgängen hat, und eine solche Klasse an der eigenen Schule aufmachen kann. Sonst werden Kinder mit festgestelltem Förderbedarf an eine Förderschule abgegeben (bzw. abgeschoben).

An meine Hauptschule kamen bisher alle Kinder, welche eine Empfehlung für die Hauptschule hatten oder eine eingeschränkte Empfehlung für die Realschule und von dieser abgewiesen wurden. Außerdem landeten bei uns auch alle so genannten GU-Kinder, also Schüler mit ausgewiesenem Förderbedarf, sofern die Mindestzahl von sechs Kindern erreicht wurde. Die ist notwendig, um überhaupt eine GU-Klasse eröffnen zu können. Auch zu Beginn dieses Schuljahres haben wir wieder eine solche Klasse aufgemacht. Es kamen mehrere Kinder mit Förderbedarf von den Grundschulen und für einen Schüler mit Migrationshintergrund aus der Fünf des Vorjahres war Förderbedarf festgestellt worden und er wurde dieser Klasse zugewiesen. In den ersten Wochen versuchen wir zu diagnostizieren, wo die Kinder stehen. In Mathematik erreichten von allen Kindern der drei Klassen nicht einmal 10 % den in dieser Altersgruppe zu erreichen Normalwert im Rechenvermögen. So extrem hatten wir das bisher noch nicht erlebt. Auch im Bereich Deutsch konnten wir bei vielen Kindern enorme Defizite feststellen.

Wir kämpfen jetzt mit Schwierigkeiten an vielen verschiedenen Fronten. Alleine in meiner Klasse mit 22 Kindern haben wir mindestens fünf Kinder mit riesigen Problemen. Zum Halbjahresende hatten wir mehrere Kinder mit über 100 Fehlstunden. Da ist ein Junge, der irgend eine Verhaltensstörung hat. Schon in der Grundschule gab es Probleme, welche die Mutter, getrennt lebend, jedoch der Schule zuschrieb und ihr Kind an einer anderen Grundschule anmeldete. Die Probleme blieben jedoch. Wir wussten davon zunächst nichts. Der Junge fällt bei seinen Mitschülern negativ auf, da immer wieder engen Körperkontakt sucht. Er fasst sie an, umarmt sie, greift sie in die Haare und ähnlich. In den Anfangswochen erlebten wir außerdem mehrfach, dass der Junge bei bestimmten Problemen mit Mitschülern völlig blockierte und sich starr wie eine Salzsäule an die Wand stellte und nicht mehr ansprechbar war für eine halbe Stunde und länger. In einem Fall kauerte er ohne jegliche Bewegung eine Unterrichtsstunde lang draußen auf dem Flur vor dem Klassenzimmer. Eine Schülerin kommt aus sozial sehr schwierigen Verhältnissen. Die Mutter und ihr Lebensgefährte sind Hartz IV Empfänger und die etwas ältere Schwester ist ein der GU-Fünf gelandet. Häufig kommt das Kind verdreckt in den Unterricht, Essensflecke auf der Kleidung. Das Mädchen fehlt häufig und hatte mehr als einmal Läuse. Regelmäßig fehlen Sachen in ihrer Schultasche. Wir versuchen, mit den Eltern zusammen zu arbeiten und bestimmte Maßnahmen für das Mädchen zu ergreifen. So haben wir zum Beispiel eine Hausaufgabenbetreuung an unserer Schule, in der siebten und achten Stunde. Das Mädchen möchte dort nicht hingehen, auch wenn es große Schwierigkeiten mit der Erledigung der Hausaufgaben hat. An unserer Schule kann man ein warmes Mittagessen haben. Das können die Eltern nicht bezahlen. Und Butterbrote für den Mittag, das will das Mädchen nicht und es wickelt seine Mutter um den Finger, so dass diese der Tochter Recht gibt. Das Jugendamt ist bereits eingeschaltet. Dann haben wir einen Jungen, der in seiner Entwicklung stark zurückgeblieben scheint. Er fehlt häufiger. Wir sind bei diesem Kind noch nicht sicher, was das Problem ist und hoffen nun, dass die Mutter bereit ist, mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten. Ein weiterer Junge ist in seinem Verhalten ebenfalls mehr als auffällig. Er ist sehr unruhig, kann sich kaum konzentrieren und hat entsprechende Schwierigkeiten im Unterricht. Was genau das Problem ist, wissen wir allerdings auch hier noch nicht. Ich könnte an dieser Stelle noch weiter aufzählen, was mit verschiedenen Kindern in der Klasse nicht stimmt. Auch aus dem Vorjahr hätte ich noch Beispiele zu bieten. Rein auf den Unterricht betrachtet, ist vielen gemein, dass sie zu wenig Anstrengungsbereitschaft haben, kaum Frustrationstoleranz, geringes Durchhaltevermögen, mangelnde Selbstorganisation, wenig Selbstdisziplin und zum Teil wenig Motivation irgendetwas zu ändern. Die Ursachen sind, wie angedeutet, höchst unterschiedlich. In der Regel hatten die Kinder ihre Probleme schon in der Grundschule und oft äußerten sie sich dort noch massiver als bei uns. Bei uns sammeln sich jetzt die Problemkinder aus den verschiedenen Grundschulen.

Die Probleme sind, wie oben angedeutet, äußerst vielfältig. Verhaltensauffälligkeiten scheinen uns sehr häufig im Elternhaus begründet. Auch auf dem Land haben wir mittlerweile viele zerbrochene Familien. Und häufig sind es genau die Kinder aus diesen Familien, welche Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, die dann zu schulischen Problemen führen. Kinder mit Migrationshintergrund haben häufig Probleme, da sie die deutsche Sprache nicht sicher beherrschen. Wir haben Kinder, die von der Grundschule ohne einen Zahlenbegriff kommen. Genauso kommen Kinder, die nach vier oder teilweise fünf Jahren Grundschule nicht richtig schreiben und lesen können. Es braucht spezielles Wissen, um zum Beispiel herauszufinden, warum manche Kinder bestimmte Rechenprobleme haben. Unsere Mathematiklehrer haben dieses Wissen aus ihrer Ausbildung in der Regel nicht. Sie wissen nicht, dass diese Kinder in der Grundschule völlig falsche und abstruse Rechenstrategien entwickelt haben, die bei diesen Kindern zu falschen Rechenergebnissen oder extrem langen Rechenwegen und großer Frustration führen. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann sich kaum vorstellen, welche gewaltige Rechenleistung diese Kinder auf einzelne Aufgaben verwenden, so dass sie zum einen entweder grundsätzlich zu falschen Ergebnissen kommen oder aber so viele Rechenschritte machen, dass sich die Fehlerwahrscheinlichkeit enorm erhöht und sie außerdem in der vorgegebenen Zeit nur sehr wenige Aufgaben rechnen können (in Arbeiten schaffen sie niemals alle Aufgaben!). Es braucht viel Zeit und ein intensives, individuelles Eingehen auf diese Kinder, um diese Strategien zu ermitteln. Erst dann kann Ihnen geholfen werden, eine einfachere und sichere Strategie zu entwickeln.

Wenn ich mir vorstelle, dass ich an einer Hauptschule auf dem Land bin, dann wage ich nicht mir auszumalen, wie es mittlerweile an den verbliebenen Hauptschulen in den Ballungsgebieten aussieht. Be a hero, be a teacher. Die wahren Helden unter den Lehrern sitzen dort.

In der gegenwärtigen Situation haben Hauptschulen natürlich versucht, sich auf diese Probleme einzustellen. Hauptschulen mit Schulsozialpädagogen oder Schulsozialarbeitern können sich glücklich schätzen, da diese ihnen enorme Unterstützung bieten mit ihrem Fachwissen und ihrer Vernetzung. Auch Hauptschulen mit GU-Klassen können froh sein über diese, da sie so mit den Förderschulpädagogen Experten im Haus haben, die sie zumindest um Rat fragen können. Das größte Problem der Hauptschulen sehe ich vor allem darin, dass ihre Lehrerschaft nicht ausgebildet wurde, um mit den Problemen, mit welchen sie in ihrem Alltag konfrontiert werden, professionell umzugehen. Auch mit dem Thema individuelle Förderung tut Hauptschule sich wie nahezu alle anderen Schulformen extrem schwer. Eine wirklich effektive individuelle Förderung aller Schüler wird sich an kaum einer Hauptschule finden. Hauptschulen erben die Probleme ihrer Schüler von den Grundschulen, da diese genauso überfordert sind.

Von schulischer Seite her ist das Problem der Bildungsverlierer nur durch mehr und entsprechend qualifiziertes Personal zu lösen, egal wie das Schulsystem aussieht. Individuelle Probleme der Schüler müssen, so wie man es uns in Finnland vormacht, früh erkannt werden, um entsprechend reagieren zu können.

Die Probleme, welche Kinder in der Schule haben oder von außen mit in sie hineinbringen, sind wie Krankheiten. Bleiben sie unbehandelt, werden aus einer Krankheit mehrere, werden sie chronisch und mutieren sie am Ende zum Krebsgeschwür, welches den Schüler komplett zerstört. Wer sprachliche Defizite hat oder durch Schwierigkeiten im Mathematik- oder Fremdsprachenunterricht leistungsmäßig mehr und mehr zurückfällt, sich im Unterricht immer mehr langweilt, keine Selbstwirksamkeit mehr erfährt, tendiert auch eher dazu auch im Verhalten auffällig zu werden. Nicht anders verhält es sich, wenn ein Kind familiäre oder persönliche Probleme mit sich herumtragen muss.

Für mich ist klar, dass vor allem ganz unten und auf breiter Front massiv eingegriffen werden muss, um die 15% Bildungsverlierer gar nicht erst entstehen zu lassen. Neben der pädagogischen Komponente gibt es noch die gesellschaftliche Seite. Die Eltern potentieller Bildungsverlierer sind, so erleben wir es an meiner Hauptschule, nicht immer an Hilfe interessiert oder verweigern sich dieser sogar. Oft brauchen sie selbst Hilfe, um ihren Kindern helfen zu können. Auch hierfür müssen Möglichkeiten gefunden werden. Es kann nicht sein, dass Kinder durch das System fallen, weil ihre Eltern nicht helfen können oder alles blockieren.

Interessant ist die jüngste Entwicklung in NRW. Mit Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung und demographischem Schülerschwund saugt jetzt die Realschule den letzten Rest Schüler, welcher der Hauptschule als relativ unproblematisch verblieben war, aus dieser heraus. Das tut die Realschule ihrem Selbsterhaltungswillen folgend. Abschulen darf die Realschule ab sofort niemanden mehr. Gleiches gilt für die Gymnasien, welche sich auch jetzt wieder kräftig bei den Realschulen bedienen, um sich zu erhalten, was dann dazu führt, dass die Realschulen kaum noch jemanden abweisen können. Für die Realschulen wird es in Kürze ein böses Erwachen geben. Bisher waren sie mit den Problemfällen, wie die Hauptschule sie seit Jahren kennt, kaum konfrontiert. Und wenn es Problemfälle gab, landeten die bei der Hauptschule – Problem gelöst. Das geht jetzt nicht mehr. Realschulen mit ihren Riesenklassen werden mit Problemschülern noch weitaus mehr überfordert sein als wir als Hauptschule. Was man sich damit antut, ahnt noch kaum einer. Man saugt sich, bildlich gesehen, gerade eine Menge Sand ins Getriebe.

Die Hauptschule wird verschwinden. Das ist klar und nicht mehr zu ändern, egal wie man dazu steht. Die Kinder, welche an Hauptschulen landen, weil man sie an anderen Schulen nicht haben will, werden in NRW in Zukunft an einer Verbundschule landen oder Gemeinschaftsschule und je nach Region vielleicht an einer Gesamtschule. Das Problem ist damit jedoch noch immer nicht gelöst, wie mit diesen Kindern umgegangen wird, dass aus ihnen keine Bildungsverlierer werden.

Digitale Schulbücher – Unwägbarkeiten

Posted in Medienwelt by damianduchamps on Februar 26, 2011

Das Schulbuch gehört, seit es Schule gibt, nahezu untrennbar zu eben dieser. Für spezialisierte Verlage hat sich daraus ein großes Geschäftsfeld ergeben. Mit der zunehmenden Digitalisierung der Medien, die auch vor dem Buch nicht halt macht, fragen sich viele, wann auch das Schulbuch digital werden wird (#shubu20). Einige denken sogar laut darüber nach, ob das Schulbuch an sich überhaupt noch notwendig sein wird.

Schulbücher nehmen auf dem Markt der Bücher eine ganz eigene Stellung ein. Vergleichbar ist sie eventuell noch mit bestimmten Bereichen von Fachliteratur.

Entscheidet sich ein Verlag, beispielsweise einen Roman oder einen Fotoband zu veröffentlichen, so geht er damit ein mehr oder weniger großes Risiko ein. Wurde das Buch von einem etablierten Autoren verfasst, ist das Risiko, auf der Auflage sitzenzubleiben geringer, handelt es sich um einen neuen Autoren, ist es größer. Entsprechend versuchen Verlage, das Risiko möglichst gering zu halten und setzen von daher vor allem auf bekannte Namen und Jungautoren, deren Themen im Trend liegen. Nur ein sehr kleiner Bereich im Portfolio eines Verlages gehört zum Bereich Prestigeprojekte. Dazu zählen beispielsweise Gedichtbände, welche über Gewinne in anderen Bereichen subventioniert werden.

Insgesamt ist so das Geschäft der Buchverlage, welche in den beispielhaft beschriebenen Bereichen (Roman und Fotobuch) operieren, immer mit einem Risiko behaftet, welches die Verlage nach Möglichkeit so gering es geht halten. Darin sind sie vergleichbar zur Musikindustrie, welche Künstler als Investitionen bzw. Kapitalanlagen sieht.

Anders sieht es aus im Bereich der Schulbuchverlage. Das Risiko ist hier deutlich geringer. Warum? Auch Schulbücher können floppen. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch deutlich geringer als etwa bei einem Roman. Anders als im Bereich der Unterhaltungsliteratur ist die Anfangsinvestitionen im Bereich der Schulbücher deutlich größer. Ein Schulbuch muss zunächst konzeptionell vorbereitet und dann zumindest mit einem Band für die Klasse eins im Bereich der Grundschule oder die Klasse fünf im Bereich der Sekundarstufe I auf dem Markt angeboten werden. Vergleichbar zu den Verlagen der Unterhaltungsliteratur wird dann die Werbemaschinerie angeworfen und weitere Investitionen werden fällig. Hat es der Verlag geschafft, das Buch am Markt zu etablieren, sprich ausreichend viele Schulen von der Einführung zu überzeugen, so hat er sich auf viele Jahre eine sprudelnde Einnahmequelle gesichert. (Mich erinnert das etwas an das Geschäft der Ölkonzerne, die Probebohrungen vornehmen, bis sie auf sprudelnde Quellen stoßen. Schulbuchverlage haben allerdings den Vorteil, dass sie deutlich weniger Probebohrungen vornehmen müssen.) Niemand ist verpflichtet, diesen oder jenen Roman zu kaufen. Bei Schulbüchern sieht dieses anders aus. Wurde ein Schulbuch an einer Schule eingeführt, so wird es von der Schule selbst erworben, klassensatzweise, oder von den Eltern der Schüler gekauft. An den Schulbüchern führt kein Weg vorbei. Sie sind Pflicht. Am lohnensten ist das Geschäft wohl, wenn die Bücher nicht von der Schule, sondern von den Eltern erworben werden, da dann die Wiedernutzung eher unwahrscheinlich ist.

Romane gibt es in digitaler Form schon seit Jahren. In der jüngsten Vergangenheit ist das Geschäft mit den ebooks förmlich explodiert. Viele mag es dabei erstaunen, dass es zu diesem Erfolg trotz der Gängelung der Verbraucher durch digitales Rechtemanagement (DRM) kommen konnte. Wundern braucht dieses letztlich nicht, denn auch der digitale Musikverkauf über iTunes wurde trotz DRM zu einem durchschlagenden Erfolg für Apple und die Labels. Bei der Musik hat man sich mittlerweile von DRM weitestgehend verabschiedet. Stattdessen experimentiert man mit Tags. Vom Kunden erworbene digitale Kopien eines Musikstücks werden mit einem Tag (englisch, Markierung) versehen, für den Endkunden nicht wahrzunehmen, welcher die Datei dem Käufer zugeordnet. Das Tag wird bei digitaler Vervielfältigung mitkopiert. Der Ursprung der digitalen Kopie lässt sich damit zurückverfolgen.

Vermutlich wird auch das digitale Buch, welches zur Zeit noch mit DRM belegt ist, zum Leidwesen der Endverbraucher mit fehlender Kompatibilität zwischen verschiedenen Plattformen, über kurz oder lang ohne digitalen Kopierschutz verkauft werden.

Und damit zurück zum Schulbuch. Der Schulbuch ist, wie gesagt, für Verlage eine sehr sichere Einnahmequelle. Verständlicherweise möchten Verlage diese nicht gefährden. Sie suchen also nach Möglichkeiten, auch im digitalen Bereich eine entsprechend sichere Einnahmequelle zu konstruieren. Das ist schwierig. Würde man bestehende Schulbücher oder kommende einfach in Form eines PDF verfügbar machen, ohne Kopierschutz, so wären die Schulbuchverlage in kurzer Zeit erledigt. In einer einzigen Schule befinden sich viele Individuen mit identischen Interessen bezüglich der Schulbücher. In einer vierzügigen Schule mit 25 Schülern die Klasse, haben 100 Schüler beispielsweise ein und das gleiche Englischbuch. Ein ungeschütztes PDF wäre im Handumdrehen an 99 Mitschüler weitergegeben, plus die der kommenden Jahrgänge. Wer wäre bereit und in der Lage, den rechtmäßigen Erwerb der PDF Datei zu kontrollieren und einzufordern? Ein Ausweg wären eventuell Landeslizenzen. Doch wer würde diese bezahlen? Digitale Schulbücher mit einem DRM zu versehen, wäre natürlich eine Lösung. Doch auch dieser Weg ist nicht ideal. Er setzt voraus, dass alle Verlage sich auf ein gemeinsames DRM einigen. Entsprechend wird geeignete Hardware gebraucht, welche dieses DRM unterstützt.

DRM ist für Verlage ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite bedeutet es Kontrolle, auf der anderen Seite jedoch auch ein hohes Risiko. Wird das DRM geknackt, kann es vom Verlag nicht einfach geändert werden, da entsprechende Schlüssel individuellen Usern zugeordnet sind und mit einer Änderung ungültig würden. Das würde dann bedeuten, dass mit dem alten DRM geschützte Bücher nicht mehr zu lesen wären, wenn Usern neue Schlüssel zugeteilt werden oder User zwar ihre alten Bücher lesen können, jedoch keine Möglichkeit haben Bücher mit neuem DRM zu lesen. (Das ist unter anderem ein Grund, warum Adobe seine DRM Technik bisher nicht geändert hat, obwohl es Usern gelungen ist, den Schüssel zu knacken.)

Eine weitere Schwierigkeit besteht für Schulbuchverlage momentan auch noch darin, dass nicht abzusehen ist, welche Hardware letztlich in Schulen zum Einsatz kommen wird. Das iPad, welches momentan an einigen Schulen verwendet wird, ist ein Gerät in einem sich noch entwickelnden Ökosystemen. Dieses wird aus Geräten mit höchst unterschiedlichen Eigenschaften bestehen, bezüglich Speicherkapazitäten, Geschwindigkeiten, Displaygrößen und -auflösungen usw.. Solange ein Buch auf Papier gedruckt wird, ist der Verlag relativ unabhängig. Formate werden vor allem durch industrielle Standards vorgegeben. Neben Tablet PCs gibt es noch E-Book Reader und natürlich auch Desktop PCs und Notebooks. Größer könnten die Unterschiede der verschiedenen Geräten nicht sein. Bleibt man beim PDF, stellt sich die Frage, woran sich das Format der einzelnen PDF Seite orientieren soll? Immerhin ist PDF grundsätzlich ein Laylout-orientiertes Format und Layout macht bei Schulbüchern durchaus Sinn, da es Inhalte strukturiert.

Einige Verlage haben sich auch mit Annäherungen an das digitale Schulbuch in Form von Software für PCs versucht. Auf Plattformen wie dem iPad oder Tablet PCs mit dem Betriebssystem Android wären entsprechend Apps vorstellbar, bzw. gibt es solche bereits. Aber auch hier ergibt sich für das Problem, dass man auf eine Plattform beschränkt ist oder Versionen für verschiedene Plattformen entwickeln muss. Bücher auf Papier gedruckt sind eine stabile Entwicklungsplattform, da sie sich nicht verändert. Papier bleibt Papier. Bei digitalen Geräten gibt es sowohl Entwicklungen im Bereich der Hardware als auch der Betriebssysteme. Hier ergeben sich neue Schwierigkeiten, will man ein Schulbuch als Software realisieren. Es muss eventuell bezüglich seiner Programmierung aktualisiert werden. Für Schulbuchverlage ergeben sich damit neue Herausforderungen und neue Kosten.

Eine Alternative, die häufig genannt wird, wären Schulbücher auf Basis der Webstandards, zum Beispiel HTML 5. Bei dieser Variante werden Verlage vermutlich keinerlei Chance sehen, die gleiche Geschäftssicherheit gewinnen zu können, wie sie sie derzeit mit dem Schulbuch in Papierform haben. Eine Webseite ist nicht mit einem Kopierschutz zu versehen. Es bliebe dann noch die Möglichkeit, digitale Schulbücher in Form von Webseiten in einem zugangsgeschützten Portal zu verbergen. Wer jedoch waren mit wessen Passwort Zugang zu diesem Portal erhält, ist nicht zu kontrollieren.

Was ich mit all diesen Beispielen versucht habe zu zeigen, und ich konnte das nur anreißen, sind die großen Unsicherheiten, welche sich für Schulbuchverlage derzeit noch mit dem Thema digitale Schulbücher verbinden. Auch die Verlage wissen natürlich, dass die Zeit nicht stehen bleibt und das Schulbuch in Papierform irgendwann nicht mehr existieren wird. In den Verlagshäusern sucht man nach Möglichkeiten und experimentiert. Noch ist wohl die Zeit nicht reif, da noch nicht alle Komponenten zusammenpassen und eine für alle zufriedenstellende Lösung zu finden ist. Schulbuchverlage beobachten die Probleme anderer Medienbranchen mit großem Interesse und wollen natürlich deren Fehler vermeiden. Wenn das Kind erst in den Brunnen hineingefallen ist, dann ist es hineingefallen. Den Verlagen kommt zum Glück die Trägheit des Bildungssystems entgegen. Noch beschränkt sich die Forderung aus den Schulen nach digitalen Schulbüchern auf wenige einzelne Stimmen. Die Mehrheit der Lehrkräfte im System wird sich ohnehin lieber nicht auf digitale Experimente einlassen wollen und bleibt lieber beim gewohnten Buch aus Papier.

Bisher sind Schule und Schulbuch untrennbar miteinander verbunden. Ob das so bleiben muss, ist eine andere Sache. Je nachdem, wie Schule und vor allem Unterricht sich verändern, ist es durchaus vorstellbar, dass die Schule der Zukunft ein Schulbuch im herkömmlichen Sinne nicht mehr kennt und braucht. Davon werden die Schulbuchverlage derzeit sicherlich bei ihren Planungen und Experimenten nicht ausgehen.

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Zum Teufel mit dem Bildungsförderalismus

Posted in Schulpolitik by damianduchamps on Februar 5, 2011

In Deutschland haben wir gravierende Probleme mit dem Bildungssytem, was nun wirklich seit der ersten PISA Studie jedem klar ist. Die Probleme des Schulsystems sind vielfältig und darum so schwierig zu packen. Prinzipiell lassen sich diese Probleme für mich auf drei Kernbereiche reduzieren. Die Reihenfolge entspricht der Größe und Bedeutung des jeweiligen Problems.

  1. Unterricht: ist noch nicht in der Gegenwart angekommen
  2. Ungerechtigkeit: gesellschaftlicher Hintergrund bestimmt Schullaufbahn
  3. Bildungsförderalismus: fehlende Kompatibilität der Systeme, Insellösungen

Wenn Punkt eins in Ordnung wäre, wir also an allen Schulen im Land, egal welcher Schulform auch immer, einen schülerorientierten Unterricht hätten, welcher dem einzelnen Schüler seine individuelle Entwicklung ermöglicht, so fielen Punkt zwei und drei deutlich weniger ins Gewicht. Da Unterricht an deutschen Schulen überwiegend nicht schülerorientiert ist, verschärft sich somit die Ungerechtigkeit des Systems und entfaltet die Verschiedenheit der Systeme von Bundesland zu Bundesland erst seine verheerende Wirkung in vollem Maße.

Eine Verringerung der Ungerechtigkeit des Schulsystems durch veränderte Strukturen kann für Teile der Schülerpopulation eine Verbesserung bringen, wird aber ohne eine entsprechende Veränderung von Unterricht letztlich nicht wirklich durchschlagend wirken.

Bleibt noch der Bildungsförderalismus, der zwar ein großes Problem darstellt, dessen Aufhebung aber keine automatische Verbesserung von Punkt eins und zwei garantiert.

Befürworter der Bildungshoheit der Bundesländer argumentieren gerne, dass so verschiedene Systeme ausprobiert werden könnten, um das bessere System zu finden. Grundsätzlich stimme ich dieser Aussage zu. Leider wird jedoch seit Jahrzehnten ausprobiert, mit dem Ergebnis, dass sich nichts verbessert hat. Im Gegenteil haben wir nun eine zerklüftete Bildungslandschaft mit zig verschiedenen Schulformen, Lehrerausbildungen und von einander abweichenden Lehrergehältern. In einem Bericht sprach man von über 50 verschiedenen Schulformen (von denen sich eine kleinere Zahl sich nur der Bezeichnung nach unterscheiden). Die mit der Bildungshoheit einhergehenden Probleme wurden nicht umsonst in den letzten Monaten von allen größeren Medien aufgegriffen.

Sehr schön beschrieb neulich der Gymnasiallehrer Christian Bode in der Süddeutschen in einer Antwort auf einen Brief einer ehemaligen Schülerin (sehr lesenswert, beide) das Problem mit dem Bildungsförderalismus und seinen Folgen:

Das deutsche Schul- und Bildungssystem ist wie der so oft als Bild bemühte Öltanker – schwerfällig und mit langem Bremsweg, wenn es mal in die falsche Richtung geht.
Das ist so und ich habe aufgehört, mir hier Illusionen zu machen. Die ländereigene Bildungs- und Schulpolitik ist nun mal das letzte politische Versuchsfeld, auf dem jeder und jede mal so richtig die Sau rauslassen kann, ohne dafür gleich die Quittung bei der nächsten Wahl zu bekommen. Das schafft Schmerzfreiheit und man findet auch immer eine Studie, die einem Recht gibt. Dazu bedarf es oft nur weniger preiswerter Zutaten, um hier sein eigenes ideologisches Süppchen zu kochen. Man nehme: Elternwille und Chancengleichheit, PISA und skandinavische Gesamtschulen, Zentralabitur und G8, Lernen ohne Noten, Binnendifferenzierung und Inklusion, Einheitsschule und Oberschule, Fördern und Fordern, Soziologengeschwafel und Finanzierungsvorbehalt, das Ganze einmal kurz aufkochen lassen, fertig ist die Schulpolitik. Freilich nur bis zur nächsten Schulreform. Das Schöne an Schule ist eben auch: Jeder kennt sich damit aus, denn jeder war mal da.

Das trifft die Sache wirklich gut (hätte ich natürlich nicht so treffend ausdrücken können als dummer Hauptschullehrer, da bin ich ehrlich – doch das nur nebenbei). Ich denke allerdings, dass hier unter anderem einer der Schlüssel liegt, um tiefgreifende Veränderungen in Unterricht und Schulsystem bundesweit einheitlich überhaupt durchzusetzen zu können.

Was würde es uns nutzen, wenn Bundesland A morgen nach Beendigung aller parteipolitischer Sandkastenzänkereien in einer von allen Parteien getragenen Mutter aller Reformen ein Bildungssystem aus dem Boden stampfte, welches dieses Bundesland in kurzer Zeit auf ein PISA Niveau vergleichbar den Spitzenländern heben würde? Profitieren würden davon die Bürger im Bundesland A. Unter den anderen Bundesländern würden sich einige vielleicht dazu durchringen, leicht adaptierte, meist verwässerte Versionen zu übernehmen. Die anderen würden das Modell von Bundesland A ideologisch zerfetzen und  eigene Gegenentwürfe suchen oder sogar beim Status Quo verharren.

Meiner Meinung nach ist es an der Zeit, den Bildungsförderalismus endlich abzuschaffen. Weg damit, so schnell wie möglich. Seit Bestehen der Bundesrepublik hat uns der Bildungsförderalismus keinerlei Gewinn gebracht. Vielmehr hat er die Probleme des Bildungssystems noch vermehrt. Die wenigen Standards, auf welche die Bundesländer sich in der Vergangenheit einigen konnten, reichen nicht, und es ist keine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage zu erwarten. Mit der zunehmenden Zersplitterung der Bildungslandschaft wird die Migration von Familien innerhalb der Bundesrepublik immer weiter erschwert. Früher waren es die NRW Abiturienten, die in Bayern nicht zum Studium zugelassen wurden, heute trifft es auch die Schüler, die mit einem Umzug in ein anderes Bundesland ihre bisherige Schulform nicht besuchen können oder eine Ehrenrunde drehen müssen wegen unterschiedlicher Systeme. Das darf nicht sein, nicht in einem Nationalstaat des 21. Jahrhunderts. Migration heute eine Grundvoraussetzung für Arbeitnehmer, die in Arbeit bleiben wollen.

Eine Fragmentierung des Bildungssystems kann kein Zustand auf Dauer bleiben. Solange die Bundesländer die Bildungshoheit besitzen, wird sich dieser Zustand nicht verbessern, sondern tendenziell eher verschlechtern, wie die vergangenen Jahrzehnte mehr als deutlich belegen.

Natürlich garantiert ein Bildungssystem unter Bundeshoheit noch lange keine idealen Verhältnisse. Es geht uns dann allen gleich gut oder schlecht. Allerdings denke ich, dass ein solches System nicht den wahlperiodenzyklischen Veränderungen unterworfen wäre wie auf Länderebene. Dort bedeutet in der Regel jeder Regierungswechsel, der mit einem deutlichen Wechsel der parteilichen Machtverhältnisse einhergeht, auch eine veränderte Bildungspolitik; siehe NRW.

Schulentwicklung braucht Stabilität und Verlässlichkeit. Die scheint mir auf Bundesebene leichter zu erreichen, schon alleine der Dimensionen und der damit verbundenen Kosten wegen. Die Abschaffung des Bildungsförderalismus sollte auf längere Sicht zu einer Beruhigung in der Bildungslandschaft führen und wäre ein Anfang für eine notwendige Vereinheitlichung der Strukturen.

Eine Bildungspolitik unter Bundeshoheit wäre außerdem ein Grund mehr, Schulen größere Autonomie zu gewähren, überall im Land. Schon in den Bundesländern zeigt sich, welch aufgeblähte und teure Verwaltungsstrukturen sich im bestehenden System mit unselbständigen Schulen über die Jahrzehnte entwickeln konnten.(*1) Das eingesparte Geld könnte direkt in die Schulen fließen.

Die Frage ist nun, wie kommt man zu einer Abkehr vom Bildungsförderalismus? Wie werden wir ihn los? Die  Politiker der Länder werden sich mit allen Mitteln wehren, sich ihr Mittel zur Selbstverwirklichung nehmen zu lassen. Braucht es ein Volksbegehren, einen Volksentscheid, eine Petition im Bundestag, einen Aufstand der Schüler, Eltern und Lehrer und aller derer, welche unter dem kaputten System leiden? Brauchen wir eine Partei, die sich die Abschaffung auf die Fahnen schreibt?

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*1 Ein schönes Beispiel dafür sind die Bezirksregierungen des Landes NRW. Als die um eine reduziert werden sollten, zogen die alle möglichen Verwaltungsarbeiten aus den Schulämtern an sich, um ihre Daseinslegitimation zu erhöhen.